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Berufswahl-Forschung
“Das Thema ist überall angekommen und wir sind besser geworden, aber noch nicht gut genug“

Katja Driesel-Lange gilt als eine der profiliertesten Expert:innen in Sachen Berufswahl. Die Professorin lehrt an der Uni Münster, ist Sprecherin des Wissenschaftlichen Netzwerks Berufsorientierung (WiN·BO), war an der Neukonzeption der berufswahlapp maßgeblich beteiligt und hat Bücher und Artikel rund um die Berufsorientierung geschrieben.

Frau Driesel-Lange, müssen Sie als ausgewiesene BO-Expertin manchmal die Faust in der Tasche ballen, wenn sich in der dramatisch verschärfenden Fachkräftekrise alle möglichen Leute dazu äußern, wie eine Berufsorientierung eigentlich und vor allem anders laufen sollte?

Naja, erst einmal ist es doch erfreulich, dass dieses Thema so viele Menschen bewegt. Berufliche Orientierung ist aus meiner Sicht eine für jeden Menschen bedeutsame Aufgabe und gleichzeitig von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Wenn da Dinge aus dem sprichwörtlichen Ruder laufen, macht sich Nervosität breit. Und wie das in Krisen häufig passiert, werden dann vermeintlich „schnelle Lösungen“ verkündet. Diese werden, zumindest im Kontext der Beruflichen Orientierung, aber häufig der Komplexität der Herausforderung nicht gerecht. Und da die Thematik so viele gesellschaftliche Bereiche und damit Akteursgruppen betrifft, werden eben auch viele unterschiedliche Sichtweisen eingebracht, die eben vor allem den eigenen Handlungsraum abbilden. Das ist nachvollziehbar, hilft aber nicht immer den Jugendlichen in ihrer Laufbahnentwicklung. Zudem würde ich gern das Thema Fachkräftemangel und Berufliche Orientierung konstruktiv vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Herausforderungen – wie etwa der Klimakrise – breiter diskutieren.

Sie werden seit Jahren immer wieder gefragt, wenn neue Angebote zur Berufsorientierung entwickelt oder angepasst werden. Wie kam es dazu, dass die BO zur Ihrem Steckenpferd wurde?

Ich habe mich bereits im Studium mit Fragen von Chancengerechtigkeit auseinandergesetzt und bin darüber zum Thema der Förderung von geschlechtssensiblen Angeboten der Beruflichen Orientierung gelangt. Ich durfte zunächst einige Jahre an der TU Ilmenau Veranstaltungen zur Studienorientierung für Schülerinnen, ihre Eltern und auch Lehrpersonen konzipieren und durchführen. In der pädagogischen Auseinandersetzung mit diesem individuell so bedeutsamen Thema der Berufswahl, das aber häufig konzeptionell auf eine kognitive Ebene reduziert wird, hat sich die Frage herauskristallisiert, wie wir Berufliche Orientierung so aufstellen können, dass Übergänge besser gelingen können, Jugendliche also ihre Potenziale erkennen und mit Mut und Freude in berufliche Perspektiven übersetzen. Ich hatte ja schon angedeutet, dass dies ein komplexes Anliegen ist, nicht nur in seiner pädagogisch-praktischen Ausgestaltung, sondern eben auch aus theoretischer Sicht. Das hat mich von Beginn an fasziniert und das tut es auch heute noch [lacht]. Ich hatte dann das Glück, an der Universität Erfurt – berufswahltheoretisch würden wir von „planned happenstance“ sprechen – , diesen Fragen in der Tiefe wissenschaftlich fundiert nachgehen zu können. Ich konnte mich damals mit Unterstützung von Ernst Hany und Bärbel Kracke vor allem aus psychologischer Sicht mit Berufswahl und schulischer Berufsorientierung beschäftigen. Die Erkenntnisse, die wir in unserer Arbeitsgruppe gewinnen konnten, sind in den Diskurs eingeflossen und haben gleichzeitig weitere Forschungsdesiderata und pädagogisch-konzeptionelle Herausforderungen deutlich werden lassen. Für mich war dies eine Bestätigung, mich weiter gemeinsam mit Kolleg:innen in Forschung und Praxis damit auseinanderzusetzen. Und ich bin sehr glücklich, an der Universität Münster eine wissenschaftliche „Heimat“ gefunden zu haben, an der Berufliche Orientierung seit vielen Jahren eine Tradition in Forschung und Lehre hat, an die ich anknüpfen konnte.

In einem Beitrag von 2006 schreiben Sie von großen Akzeptanzproblemen gerade an Gymnasien, wenn die Schule Angebote zur BO entwickelte. Sind Sie heute zufrieden mit dem, was an Schulen an Berufsorientierung geleistet wird und auch, wie die Angebote angenommen werden?

Ernst Hany und ich haben damals ein Thema aufgegriffen, was zu dieser Zeit in vielerlei Hinsicht nicht populär war. Die Bedeutung von Angeboten der Beruflichen Orientierung an Gymnasien wurde sowohl theoretisch-konzeptionell als auch praktisch kaum widergespiegelt. Das hat sich in den letzten beiden Dekaden stark verändert, auch dank dem engagierten Wirken meiner Kolleg:innen an verschiedenen Hochschulstandorten, zahlreichen Initiativen aus Wirtschaft und Gesellschaft, wie dem Studienkompass der sdw oder arbeiterkind.de, sowie der letztendlichen Ausgestaltung bildungspolitischer Setzungen. Wenn Sie mich nach meiner Zufriedenheit fragen: das Thema ist überall angekommen, wir sind besser geworden, aber noch nicht gut genug, wenn wir als Gradmesser die Zahl der Jugendlichen nehmen, die keinen gelingenden Übergang meistern können. Und wir können noch eine Menge lernen, wenn wir über unseren „deutschen Tellerrand“ hinausschauen und auch andere Wege der Beruflichen Orientierung zumindest in die Überlegungen zur Qualitätsentwicklung einbeziehen.

Was müsste aus Ihrer forschenden Sicht heraus unbedingt noch verbessert werden?

Die Studien, die wir in letzter Zeit durchgeführt haben und auch die internationale Befundlage, zeigen uns erstens vor allem die unabdingbare Notwendigkeit der Individualisierung. Wir haben innerhalb eines Jahrgangs sehr große Entwicklungsunterschiede zwischen den Jugendlichen, so wie das in anderen Bereichen ja auch der Fall ist. Während aber im Fachunterricht z.B. in Inhalten, Aufgaben und Lernzielen differenziert wird, wird bei der Beruflichen Orientierung nach wie vor häufig nach dem Motto „One size fits all“ gehandelt. Alle gehen zur gleichen Zeit in das gleiche Angebot. Und dieses ist dann eben nur für einen kleinen Teil gerade passend, vor allem wenn die Vor- und Nachbereitung nicht entsprechend individualisiert erfolgt. In der Folge lässt sich dann zeigen, dass vor allem die Jugendlichen profitieren, die in ihrer Entwicklung weit vorangeschritten sind. Individualisierung heißt aber auch, die Sichtweisen und Bedürfnisse von Heranwachsenden mehr zu adressieren. Hier zeigen uns Jugendstudien beispielsweise, welche Motive für Jugendliche zentral sind, bestimmte Berufe oder Domänen zu wählen oder nicht zu wählen oder welche Werte für sie bestimmend sind. Zweitens sehen wir in den Studien, dass die berufliche Entwicklung besonders positiv durch die wahrgenommene soziale Unterstützung durch Lehrpersonen beeinflusst wird. Wenn Berufliche Orientierung also an der Schule als bedeutsames Anliegen von vielen getragen wird und die Jugendlichen überzeugt sind, dass dies auch für ihre Lehrerinnen und Lehrer wichtig ist, sind sie motivierter und engagierter. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: dies ist keine Frage der Quantität, sondern der Wertschätzung für das Thema und der Anerkennung, dass Jugendliche eine herausfordernde Entwicklungsaufgabe zu bewältigen haben, die Geduld und langfristige Begleitung braucht. Drittens sind Reflexionsräume bedeutsam. D.h., wir sollten nicht mehr Angebote zur Beruflichen Orientierung setzen, um Verbesserungen herbeizuführen, sondern müssen Jugendlichen Zeit geben, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse einzuordnen. Hierfür sprechen auch die empirischen Befunde zur Wirksamkeit der Beruflichen Orientierung. Am effektivsten sind Gespräche, in die Jugendliche ihre eigenen Anliegen einbringen können. Die Studien zeigen uns viertens die große Bedeutung der Bedingungen der Einzelschule für die berufliche Entwicklung von Jugendlichen. Individuelle Förderung muss also nicht nur die Heranwachsenden in den Blick nehmen, sondern auch in institutioneller Perspektive gelten. Wenn schulische Berufsorientierung verbessert werden soll, muss zunächst die Ausgangslage der einzelnen Schule, d.h. u.a. deren Konzept und deren personale Ressourcen adressiert, bevor vermeintlich allgemeingültige Strategien verfolgt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht müssen wir uns zudem stärker, auch international, mit Blick auf den Wissenstransfer vernetzen. Auf Initiative von Rudolf Schröder aus Oldenburg können wir jetzt in einem ERASMUS+-Projekt Transferstrategien erproben und so Berufliche Orientierung als zentrale Bildungs- und Forschungsaufgabe gemeinsam sichtbarer machen.

Wenn Sie die vielen Studien über Passungsprobleme am Ausbildungsmarkt und Probleme bei der Berufsfindung lesen, sind Sie dann nicht manchmal etwas frustriert darüber, dass man bei dem Thema offenbar nur sehr langsam vorankommt? Diskutieren Sie darüber auch mit anderen BO-Forscher:innen?

Ja, ein langer Atem ist von Vorteil. Da bin ich mit den Kolleg:innen, die auch schon länger am Thema arbeiten, einer Meinung. Aber Frust kommt aus meiner Sicht nicht auf, auch wenn ich mich manchmal – scherzhaft gesprochen – wie eine Wanderpredigerin fühle, die seit zwanzig Jahren das Gleiche erzählt. Und wir müssen uns von der Illusion verabschieden, dass wir irgendwann eine Art Rezept gefunden haben, wie Berufsorientierung richtig funktioniert. Vielmehr müssen wir vor dem Hintergrund einer beständigen gesellschaftlichen Veränderungsdynamik und der stetig neuen Erkenntnisse der Berufswahlforschung unsere Konzepte und Handlungsstrategien immer wieder kritisch betrachten und beständig weiterentwickeln.

Auf der anderen Seite muss man ja auch sagen: Nie stand die Berufsorientierung derart im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie heute. Freuen Sie sich darüber?

Ja, das hatte ich ja schon eingangs zum Ausdruck gebracht. Wir tun gut daran, dem Thema, auch öffentlich, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn für diese wichtige Aufgabe benötigen wir Wertschätzung und viele, mit einer Zielperspektive gemeinsam agierende, professionelle Akteure, die auch auf entsprechende Ressourcen zurückgreifen können. Übergeordnetes Ziel muss es sein, bei Jugendlichen Berufswahlkompetenz anzubahnen, damit diese sowohl eine erste berufliche Entscheidung treffen können als auch lebenslang ihre Laufbahn gestalten. Dies ist nicht nur im Sinne individueller Zufriedenheit von Bedeutung. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht ist das unabdingbar, um sowohl Teilhabe als auch wirtschaftliche Stärke zu sichern.

Vielen Dank, Frau Driesel-Lange, für das Gespräch!

http://www.uni-muenster.de/EW/personen/driesellange.shtml
http://www.berufswahlforschung.de
http://www.projekt-stepup.de

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