
Die Rolle der IHKs in der beruflichen Orientierung
“Jugendliche wollen nichts verkauft bekommen, sie brauchen Orientierung”

Die Industrie- und Handelskammern in Deutschland sind sehr aktiv, wenn es um die berufliche Orientierung geht. Das Ziel ist, Jugendliche mit Ausbildungsbetrieben in der Region zusammenzubringen. Doch welche Maßnahmen funktionieren besonders gut? Bei der IHK Ulm trafen wir Lisa Jawoscheck, Ivonne Mingl und Elke Panhans.
Frau Jawoscheck, Sie leiten bei der IHK Ulm den Bereich Ausbildungsmarketing. Wie groß sind die Erwartungen der deutschen Unternehmen, dass die IHKs beim Thema Nachwuchssicherung aktiv sind? Spüren Sie einen Druck aus den Unternehmen?
Lisa Jawoscheck: Die Herausforderung für Betriebe ist groß – und unsere kostenlose Unterstützung wird gerne angenommen. Zwar gibt es Bewerbungen, doch oft passen sie nicht zu den Anforderungen der Berufe. Die sogenannte „Bewerberqualität“ sinkt. Es fehlt an personalen Kompetenzen, wie z.B. Verantwortungsbewusstsein oder Motivation, aber auch an Wissen in den Kernfächern. Das bedeutet für die Betriebe: eine intensivere Begleitung während der Ausbildung ist häufiger notwendig. Gleichzeitig erleben wir, dass viele Jugendliche bei der Berufswahl unsicher sind. Sie starten mit wenig Vorstellung vom Arbeitsalltag in eine Ausbildung – und mit recht hohen Erwartungen. Ein Abbruch ist heute kein Tabuthema mehr. Für die Unternehmen ist das – neben dem generellen Bewerbermangel – eine zusätzliche Belastung. Wir als IHK bringen Jugendliche und Betriebe, und übrigens auch Eltern und Lehrkräfte, frühzeitig zusammen – sei es im Unterricht, bei Elternabenden, den Praktikumswochen oder dem Girls’ Day. Außerdem sehen wir uns als Partner der Schulen: Wir stimmen uns eng bzgl. bestehender Angebote ab und freuen uns über Interesse. Je mehr echte Einblicke junge Menschen erhalten, desto fundierter entscheiden sie. Das hilft gegen Motivationsprobleme oder gar Ausbildungsabbrüche.
Wenn Sie als Teamleiterin eine Top-3-Liste erstellen müssten, mit welchen Maßnahmen das bisher am besten geklappt hat, welche wäre das?
Das erste wäre die Ausbildungsbotschafterinnen und -botschafter: Azubis berichten im Schulunterricht von ihrem Weg – ehrlich, auf Augenhöhe und motivierend. Das macht Ausbildung greifbar und zeigt: Das schaffe ich auch! Der zweite Punkt betrifft den Aufbau von Netzwerken und Partnerschaften: Bildungspartnerschaften, Elternabende oder gemeinsame Aktionen funktionieren dann gut, wenn engagierte Personen zusammenarbeiten, am besten über viele Jahre. Diese persönlichen Connections machen den Unterschied. Und schließlich die Unterstützung der Stellensuche: Wir kennen die Betriebe in der Region und helfen dabei, Ausbildungs- oder Praktikumsplätze zu finden – Grundlage dafür ist unter anderem das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Projekt „Passgenaue Besetzung“. Einen Überblick bietet auch unser Atlas www.derausbildungsatlas.de. Und: unsere Azubi-Speed-Datings sind live und unkompliziert.
Frau Panhans, das Berufswahl-SIEGEL zeichnet Schulen aus, die gute Ideen in der Berufsorientierung hervorgebracht und umgesetzt haben. Was habe ich als Schule davon, wenn ich die Auszeichnung bekomme?
Elke Panhans: Als Schule habe ich damit eine von außen sichtbare Anerkennung meiner Aktivitäten und des enormen Engagements zum Thema Berufs- und Studienorientierung. Befindet sich meine Schule in direkter „Konkurrenz“ zu anderen Schulen in der Nähe, kann das BoriS – Berufswahl-SIEGEL die Entscheidung der Eltern für meine Schule begünstigen. Darüber hinaus erhalte ich ein kostenloses Audit durch ein Expertengremium, das mir Feedback gibt, um meine Projekte weiter zu verbessern.
Können umgekehrt eigentlich Schulen gute Ideen über das Siegel-Netzwerk aufgreifen?
Ja. Zum einen verpflichten sich SIEGEL-Schulen, bei Interesse anderen Schulen Einblick zu gewähren und sie sogar zu unterstützen. Zum anderen haben wir in der IHK Ulm beim letzten BoriS-Durchgang etwas ausprobiert, das enorm gut ankam: Bei der Auftaktveranstaltung im November stellten 6 frisch zertifizierte SIEGEL-Schulen eines ihrer hochinteressanten Best Practices vor. Und zwar BO-Lehrkräften und Schulleitern anderer Schulen, die sich für das SIEGEL interessierten. Die Austauschmöglichkeit wurde sehr rege genutzt. Diesmal wollen wir auch unsere BoriS-Juroren zum Auftakt einladen, die dadurch für ihre ehrenamtliche Tätigkeit weitere Einblicke, Anregungen und Beurteilungssicherheit gewinnen. Auf Bundesebene kann über die SIEGEL-Akademie an Netzwerk- und Fortbildungsveranstaltungen teilgenommen werden.
Frau Mingl, Sie beschäftigen sich auch mit der Rolle der Eltern in der Berufsorientierung. Welchen Stellenwert nehmen nach Ihrer Ansicht Eltern hier ein?
Ivonne Mingl: Die Eltern sind wichtige Bezugspersonen auch in der Berufsorientierung. Durch Gespräche zu Hause werden die Jugendlichen geprägt und beeinflusst. Auch wenn es wirkt, als hätte das Kind durch die Pubertät keine Lust zum reden, nehmen Eltern einen höheren Stellenwert ein, als uns das bewusst ist. Daher – im Gespräch bleiben. Wir beteiligen uns an BO-Abenden und ermöglichen Eltern den Austausch mit Senior-Ausbildungsbotschaftern. Diese haben ihre Karriere mit einer Ausbildung begonnen und sind heute erfolgreiche Fach- und Führungskräfte. Diese Erfahrungen sind für Eltern wichtig. Sie erhalten Informationen zu Berufen und Karrierechancen. Gleichzeitig werden ihre Sorgen beruhigt.
Wäre es aus Ihrer Sicht überhaupt sinnvoll, mehr Berufstätige zu bitten, für ihre Branchen an den Schulen zu werben?
Die Formulierung „zu werben“ finde ich nicht so gut. Jugendliche wollen nichts verkauft bekommen, sie brauchen Orientierung. Das zeigen auch Studien, unabhängig der Schulart. Was wir nicht vergessen dürfen: Die Jugendlichen halten sich am meisten in der Schule auf. Daher macht es Sinn, dass gerade regionale Vertreter in den Schulen berichten. So bekommen die Jugendlichen kleine Einblicke. Das Umfeld hat meist mehr zu bieten, als man denkt. Familienmitglieder oder auch Ehemalige können viel erzählen. Außerdem macht es stolz, von den eigenen Erfahrungen und Erfolgen zu erzählen.
Vielen Dank für das Gespräch!