363.393 junge Menschen ließen sich in 2020 in Deutschland in einem Handwerksberuf ausbilden, das sind 40 Prozent weniger als noch zur Jahrtausendwende. Über die Situation und die Chancen im Handwerk sprachen wir im Frühjahr 2022 mit Hans Peter Wollseifer. Dem früheren Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks lässt das Thema Ausbildung keine Ruhe.
Herr Wollseifer, Sie sind gelernter Maler und Lackierer und haben in diesem Bereich vor längerer Zeit ja auch Ihre Meisterprüfung erfolgreich abgelegt. Die wichtigste Frage daher vorneweg: Wären Sie selbst heute noch in der Lage, solche Arbeiten so durchzuführen, dass es keine großen Reklamationen gibt?
Über all die Jahre meines Berufslebens habe ich natürlich immer die technologischen Entwicklungen verfolgt, um auf dem aktuellen Stand zu sein und in meinem Betrieb die entsprechenden neuesten Trends und Technologien einsetzen zu können. Tatsächlich habe ich mich in den vergangenen Jahren jedoch vor allem darauf konzentriert, den Betrieb zu führen, Aufträge reinzuholen, hervorragende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und junge Menschen auszubilden – immerhin waren das weit über 100 Auszubildende während meines bisherigen Berufslebens. Daher war ich nicht mehr so häufig selbst vor Ort im Einsatz. Aber ja: Fachgerechtes Arbeiten traue ich mir dennoch immer noch zu.
Das Handwerk darf sich seit Jahren über volle Auftragsbücher freuen, doch ein Thema wird Jahr für Jahr dramatischer und sorgt dafür, dass manche Aufträge sogar abgelehnt werden müssen, der fehlende Nachwuchs. Was ist da passiert?
Die Gründe für den Trend zum Studium liegen im vorherrschenden Bildungsmantra der vergangenen Jahrzehnte: Politiker und Bildungsinstitutionen haben jungen Menschen und deren Eltern gebetsmühlenartig Abi und Studium als den vermeintlich alleinigen Königsweg zu beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung gepredigt. Allerdings hat sich das für viele junge Menschen als Trugschluss erwiesen. Das zeigt die hohe Anzahl an Studienabbrüchen. Und das mit einem Studium verbundene Aufstiegsversprechen konnten auch längst nicht alle Studienabsolventen einlösen. Doch obwohl das so ist, ist dieses Denken in den Köpfen von Eltern und auch vielen Lehrerinnen und Lehrer immer noch fest verankert.
Was kann man dagegen tun?
Das aufzulösen, geht nicht so schnell, dafür braucht es einen längeren Atem und viele Kampagnenjahre. Mit dem aktuellen, provokativ zugespitzten deutschlandweiten Kampagnen-Slogan: „Hier stimmt was nicht“ legen wir den Finger in die Wunde: Dass junge Menschen, die das Handwerk zu ihrem Beruf machen, immer noch weniger Wertschätzung als Studierende erfahren. Dabei sind es Handwerkerinnen und Handwerker, die unser Land am Laufen halten und zur Zukunfts- und Wohlstandssicherung so dringend vonnöten sind. Wenn aber zwischen tatsächlicher Relevanz und gesellschaftlicher Wahrnehmung eine solche Lücke klafft, stimmt doch etwas nicht. Die Reaktionen auf die aktuelle Kampagne sind bisher sehr zustimmend. Und insgesamt ist mein Eindruck, dass – nicht zuletzt durch unsere bundesweiten und regionalen Kampagnen – etwas in Bewegung gekommen ist und sich der Blick auf eine duale Ausbildung wieder zum Positiven ändert. Viele erkennen, wie wichtig und anspruchsvoll handwerkliche Berufe sind: für alle Zukunftsaufgaben und gerade auch für den Klimaschutz, der vielen jungen Menschen so am Herzen liegt.
Müsste man vielleicht mal besser kommunizieren, welche Karrierechancen sich eröffnen, wenn ich eine Berufsausbildung hinter mich gebracht habe?
Deshalb setzen wir uns so vehement dafür ein, dass die Information über die vielfältigen Berufe und besonders auch über die zahlreichen Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten im Handwerk unbedingt Bestandteil der Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen und auch an allen Gymnasien sein müssen. Das umso mehr, als die berufliche Bildung aktuell Perspektiven eröffnet, die mancher akademische Weg nicht mehr bieten kann. Etwa bei der Arbeitsplatzsicherheit oder den Möglichkeiten zur Selbstständigkeit. Die Berufschancen sind derzeit im Handwerk so gut wie kaum jemals zuvor.
Gibt es neben der guten Auftragslage weitere Gründe für diese These?
Um Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, energetische Gebäudesanierung und klimaeffizienten Wohnungsbau, SmartHome und E-Health umzusetzen, werden dringend qualifizierte Fach- und Führungskräfte gebraucht. Das gilt auch für die rund 125.000 anstehenden Betriebsübergaben im Handwerk allein in den kommenden fünf Jahren: Das sind 125.000 Chancen, schon ganz jung seine eigene Chefin oder eigener Chef werden zu können.
Was können die Kammern tun?
Über all das informieren wir als Handwerksorganisation umfassend: über Social Media und zu Corona-Zeiten digital. Wir entwickeln neue Ausbildungswege – Stichworte sind hier BerufsAbitur oder Höhere Berufsbildung – und auch ganz neue Berufe wie den Elektroniker für Gebäudesystemintegration. In unseren Handwerkskammern gibt es Ausbildungsberater und auf www.handwerk.de einen Überblick zu allen Berufen und den zugehörigen Ausbildungswegen.
Was sind aus Ihrer persönlichen Sicht heraus die Vorteile eines Handwerksberufs?
Sie können ihre Arbeit mit dem sicheren Gefühl machen, dass das, was sie tun, gebraucht wird. Das macht zufrieden. Als Handwerkerin und Handwerker ist man Teil einer der bedeutendsten Wirtschafts- und Gesellschaftsgruppen dieses Landes und leistet einen ganz entscheidenden Beitrag dazu, dass dieses Land funktioniert. Und nur mit dem Handwerk wird die Zukunft Deutschlands zu gestalten sein. Doch es sind leider immer noch zu viele längst nicht mehr zutreffende Klischees vom Handwerk in den Köpfen verhaftet, wonach es schmutzig, körperlich anstrengend, wenig modern und uncool ist. Modernes Handwerk sieht so aus: Unsere Betriebe arbeiten mit Tablets, 3D-Scannern, Drohnen und digitalen Vermessungs- oder Bearbeitungsgeräten. Handwerk heute ist modern und innovativ, auf der Höhe der Zeit, vielfältig und attraktiv. Im Handwerk bieten sich jungen Menschen anspruchsvolle berufliche Optionen in allen Zukunftsfeldern – Stichworte sind hier: Energiewende, Smart-Home, E-Mobility, Medizintechnik. Bei über 130 ganz unterschiedlichen Ausbildungsberufen dürfte sich für jede und jeden etwas finden lassen, das seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Das ist dann doch ein gutes Fundament für ein erfülltes und zugleich zukunftssicheres Berufsleben.
Vielen Dank, Herr Wollseifer, für das Gespräch!