Der Anteil derer, die in Deutschland ein Studium ohne Abitur aufnehmen, wächst rasant. In allen Bundesländern wurden dafür Möglichkeiten geschaffen, wenn auch in unterschiedlichen Varianten bei den Zugangsvoraussetzungen. In einem vielbeachteten Papier hat das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) jetzt die Entwicklungen zusammengefasst. Wir sprachen mit den Autorinnen Sigrun Nickel und Anna-Lena Thiele.
Frau Nickel, Frau Thiele, inzwischen studieren rund 66.000 Menschen an einer deutschen Hochschule, die kein Abitur in der Tasche haben. Damit hat sich der Wert in 20 Jahren mehr als vervierfacht, doch liegt ihr Anteil an allen Studienanfänger*innen noch immer bei bescheidenen drei Prozent. Es tut sich etwas, das kann man sagen. Sie schrieben in der Studie aber auch: Da ist noch viel Luft nach oben. Wie lauten Ihre Vorschläge, das Studium ohne Abi noch bekannter zu machen und noch besser zu vermarkten?
Sigrun Nickel: Die Daten zeigen, dass der quantitative Zuwachs beim Studium ohne Abitur in Deutschland keine flächendeckende Entwicklung ist, sondern vor allem durch Hochschulen vorangetrieben wird, die mit ihrem Angebot den Bedürfnissen von beruflich Qualifizierten entgegenkommen. Damit gehen sie dann offensiv auf die entsprechenden Zielgruppen zu. Beides ist also wichtig: Sowohl ein geeignetes Studien- als auch ein ansprechendes Informationsangebot. Darüber hinaus ist die Einbeziehung der Schulen wichtig. Lehrerinnen und Lehrer sollten frühzeitig darüber informieren, dass der Zugang zur Hochschule auch mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in Kombination mit einer zwei- bis dreijährigen Berufspraxis oder aber mit Berufsausbildung plus Abschluss einer beruflichen Aufstiegsfortbildung, z.B. als Meister:in oder Fachwirt:in möglich ist. Leider sind die Zugangsregeln in den Bundesländern sehr unübersichtlich, sodass Personen, die ohne allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife studieren wollen, einiges an Willensstärke und Durchhaltevermögen aufbringen müssen, um sich durch das Dickicht zu kämpfen. Das sorgt für einen ausgeprägten Beratungsbedarf bei beruflich qualifizierten Studieninteressierten. Die bestehenden Hürden sollten dringend abgebaut werden, wobei hier vor allem die Bundesländer gefordert sind. Das CHE versucht mit seinem Onlineportal www.studieren-ohne-abitur.de für mehr Transparenz zu sorgen. Es bietet umfangreiche Informationen und Datenbanken für die individuelle Recherche.
Die Bildungslandschaft ist durchlässiger geworden, das wurde jahrelang ja auch vehement gefordert. Sie schreiben in der Studie, dass es vor allem den Hochschulen zu verdanken sei, weil die ihre Angebote deutlich ausgebaut haben. Welche Aufgabe könnten nun aber die Schulen im Rahmen ihrer Hilfe bei der beruflichen Orientierung konkret übernehmen, um auf diese Option hinzuweisen? Immerhin könnte sie ja an den Gymnasien die Entscheidung pro oder kontra Ausbildung bzw. Studium maßgeblich beeinflussen. Und an anderen Schulen könnten sie die äußerst positive Botschaft verkünden, dass sich mittlerweile auch ohne Abi viele Karrierewege ergeben, die früher fast undenkbar waren.
Anna-Lena Thiele: In den Schulen sollte die Botschaft vermittelt werden, dass die Trennung von beruflicher und akademischer Bildung heute deutlich weniger strikt ist als noch vor einigen Jahren. Beide Bereiche nachschulischer Bildung können immer selbstverständlicher zur individuellen Biografie gehören. Es ist ein Erfolg der Bildungsreformen der 2000er Jahre, dass nun deutlich mehr Menschen die Möglichkeit besitzen, zwischen unterschiedlichen Bildungsoptionen zu wählen. Das ist ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit, den wir unterstützen. Die aktuellen Zahlen zum Studium ohne Abitur belegen eindrucksvoll, dass die Studierfähigkeit auch über den beruflichen Weg erreicht werden kann. So konnten laut unseren Auswertungen im Zeitraum von 2010 bis 2020 insgesamt 66.082 Personen ohne Hochschul- und Fachhochschulreife erfolgreich ein Studium abschließen. Im Rahmen der Berufsorientierung wäre es sinnvoll, auf diese „Good Practice Beispiele“ hinzuweisen und die Bildungswege von beruflich Qualifizierten vorzustellen. So gibt es Personen, die es vom Physiotherapeuten zum Facharzt oder von der Industriekauffrau zur Wirtschaftsingenieurin geschafft haben. Insgesamt stehen Interessierten ohne Abitur derzeit mehr als 8.000 Studienangebote an deutschen Hochschulen offen.
Der Fachkräftemangel ist als Phänomen über viele Jahre auch von Experten:innen wie Ihnen vorhergesagt worden, jetzt schlägt er richtig zu. Es gibt eindeutig zu wenige Schulabgänger:innen, die eine Ausbildung machen wollen. Sollte nicht die Wirtschaft ganz massiv daran mitarbeiten, dass das Studium ohne Abi ganz normal wird und so eine ganz neue Bindung ans Unternehmen möglich wäre? Wie könnte eine solche Unterstützung konkret aussehen?
Anna-Lena Thiele: Ja, die Wirtschaft sollte das Studium ohne Abitur nicht länger mit Skepsis, sondern als Chance betrachten, die berufliche Bildung als attraktiven Weg zu profilieren, der dem Einzelnen vielfältige Optionen eröffnet. Das erfordert aber in etlichen Unternehmen ein Umdenken. Verantwortliche sollten ihre Mitarbeiter:innen über die Möglichkeit eines Studiums ohne Abitur informieren und bei Interesse dabei unterstützen, diesen Weg zu gehen. Das trägt sicherlich deutlich zur Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei. Außerdem profitieren Unternehmen davon, wenn ihre Mitarbeiter motiviert sind Neues zu lernen und sich fachlich weiter zu qualifizieren. Neben dem Angebot, die Arbeitszeit zu reduzieren oder zu flexibilisieren können Unternehmen Studierende ohne Abitur auch durch die Freistellung für den Besuch von Lehrveranstaltungen an der Hochschule oder für Selbstlernphasen am Computer wirkungsvoll unterstützen. Zudem sind auch finanzielle Entlastungen z.B. für Anfahrten zu weiter entfernt liegenden Hochschulen sinnvoll.
Wissenschaftler:innen mögen keine Prognosen ins Blaue hinein, dennoch die Frage: Welchen Anteil von Studierenden ohne Abi an der gesamten Studentenschaft halten Sie perspektivisch für möglich?
Sigrun Nickel: Grundsätzlich hätten deutlich größere Teile der Bevölkerung die Möglichkeit, sich akademisch zu bilden, als das bislang der Fall ist. In einer aktuellen Publikation haben wir ermittelt, dass in Deutschland durch die verbreiterten Zugangswege bis zu 80 Prozent der Bevölkerung studienberechtigt sein könnten. Wie groß das Potenzial tatsächlich ist, lässt sich allerdings schwer sagen. Dazu fehlen derzeit geeignete Daten und Prognoseverfahren. Das Interesse am Studium ohne Abitur ist jedenfalls über die Jahre immens gestiegen. So gab es beispielsweise 1997 nur 1.568 Studienanfängerinnen und -anfänger ohne Abitur im Bundesgebiet und im Jahr 2020 waren es 15.161 – das ist fast eine Verzehnfachung. Dabei handelt es sich um einen langsamen und kontinuierlichen Anstieg, weniger um plötzliche quantitative Sprünge. Insofern ist eine starke Zunahme in naher Zukunft nicht zu erwarten, eher ein langsames weiteres Wachstum. Am wichtigsten ist uns, dass die Botschaft in der Öffentlichkeit ankommt: Prinzipiell haben alle Bürgerinnen und Bürger auf jedem Bildungsniveau und in jeder Lebensphase die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln. Dazu wollen wir mit unserer Arbeit einen Beitrag leisten.
Eine sehr positive Botschaft! Frau Nickel, Frau Thiele, vielen Dank für das Gespräch!
Zum Weiterlesen:
Zahl der Studienberechtigten deutlich höher als die offizielle Statistik
Frau Nickel, Frau Thiele, inzwischen studieren rund 66.000 Menschen an einer deutschen Hochschule, die kein Abitur in der Tasche haben. Damit hat sich der Wert in 20 Jahren mehr als vervierfacht, doch liegt ihr Anteil an allen Studienanfänger*innen noch immer bei bescheidenen drei Prozent. Es tut sich etwas, das kann man sagen. Sie schrieben in der Studie aber auch: Da ist noch viel Luft nach oben. Wie lauten Ihre Vorschläge, das Studium ohne Abi noch bekannter zu machen und noch besser zu vermarkten?
Sigrun Nickel: Die Daten zeigen, dass der quantitative Zuwachs beim Studium ohne Abitur in Deutschland keine flächendeckende Entwicklung ist, sondern vor allem durch Hochschulen vorangetrieben wird, die mit ihrem Angebot den Bedürfnissen von beruflich Qualifizierten entgegenkommen. Damit gehen sie dann offensiv auf die entsprechenden Zielgruppen zu. Beides ist also wichtig: Sowohl ein geeignetes Studien- als auch ein ansprechendes Informationsangebot. Darüber hinaus ist die Einbeziehung der Schulen wichtig. Lehrerinnen und Lehrer sollten frühzeitig darüber informieren, dass der Zugang zur Hochschule auch mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in Kombination mit einer zwei- bis dreijährigen Berufspraxis oder aber mit Berufsausbildung plus Abschluss einer beruflichen Aufstiegsfortbildung, z.B. als Meister:in oder Fachwirt:in möglich ist. Leider sind die Zugangsregeln in den Bundesländern sehr unübersichtlich, sodass Personen, die ohne allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife studieren wollen, einiges an Willensstärke und Durchhaltevermögen aufbringen müssen, um sich durch das Dickicht zu kämpfen. Das sorgt für einen ausgeprägten Beratungsbedarf bei beruflich qualifizierten Studieninteressierten. Die bestehenden Hürden sollten dringend abgebaut werden, wobei hier vor allem die Bundesländer gefordert sind. Das CHE versucht mit seinem Onlineportal www.studieren-ohne-abitur.de für mehr Transparenz zu sorgen. Es bietet umfangreiche Informationen und Datenbanken für die individuelle Recherche.
Die Bildungslandschaft ist durchlässiger geworden, das wurde jahrelang ja auch vehement gefordert. Sie schreiben in der Studie, dass es vor allem den Hochschulen zu verdanken sei, weil die ihre Angebote deutlich ausgebaut haben. Welche Aufgabe könnten nun aber die Schulen im Rahmen ihrer Hilfe bei der beruflichen Orientierung konkret übernehmen, um auf diese Option hinzuweisen? Immerhin könnte sie ja an den Gymnasien die Entscheidung pro oder kontra Ausbildung bzw. Studium maßgeblich beeinflussen. Und an anderen Schulen könnten sie die äußerst positive Botschaft verkünden, dass sich mittlerweile auch ohne Abi viele Karrierewege ergeben, die früher fast undenkbar waren.
Anna-Lena Thiele: In den Schulen sollte die Botschaft vermittelt werden, dass die Trennung von beruflicher und akademischer Bildung heute deutlich weniger strikt ist, als noch vor einigen Jahren. Beide Bereiche nachschulischer Bildung können immer selbstverständlicher zur individuellen Biografie gehören. Es ist ein Erfolg der Bildungsreformen der 2000er Jahre, dass nun deutlich mehr Menschen die Möglichkeit besitzen, zwischen unterschiedlichen Bildungsoptionen zu wählen. Das ist ein Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit, den wir unterstützen. Die aktuellen Zahlen zum Studium ohne Abitur belegen eindrucksvoll, dass die Studierfähigkeit auch über den beruflichen Weg erreicht werden kann. So konnten laut unseren Auswertungen im Zeitraum von 2010 bis 2020 insgesamt 66.082 Personen ohne Hochschul- und Fachhochschulreife erfolgreich ein Studium abschließen. Im Rahmen der Berufsorientierung wäre es sinnvoll, auf diese „Good Practice Beispiele“ hinzuweisen und die Bildungswege von beruflich Qualifizierten vorzustellen. So gibt es Personen, die es vom Physiotherapeuten zum Facharzt oder von der Industriekauffrau zur Wirtschaftsingenieurin geschafft haben. Insgesamt stehen Interessierten ohne Abitur derzeit mehr als 8.000 Studienangebote an deutschen Hochschulen offen.
Der Fachkräftemangel ist als Phänomen über viele Jahre auch von Experten:innen wie Ihnen vorhergesagt worden, jetzt schlägt er richtig zu. Es gibt eindeutig zu wenige Schulabgänger:innen, die eine Ausbildung machen wollen. Sollte nicht die Wirtschaft ganz massiv daran mitarbeiten, dass das Studium ohne Abi ganz normal wird und so eine ganz neue Bindung ans Unternehmen möglich wäre? Wie könnte eine solche Unterstützung konkret aussehen?
Anna-Lena Thiele: Ja, die Wirtschaft sollte das Studium ohne Abitur nicht länger mit Skepsis, sondern als Chance betrachten, die berufliche Bildung als attraktiven Weg zu profilieren, der dem Einzelnen vielfältige Optionen eröffnet. Das erfordert aber in etlichen Unternehmen ein Umdenken. Verantwortliche sollten ihre Mitarbeiter:innen über die Möglichkeit eines Studiums ohne Abitur informieren und bei Interesse dabei unterstützen, diesen Weg zu gehen. Das trägt sicherlich deutlich zur Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei. Außerdem profitieren Unternehmen davon, wenn ihre Mitarbeiter motiviert sind Neues zu lernen und sich fachlich weiter zu qualifizieren. Neben dem Angebot, die Arbeitszeit zu reduzieren oder zu flexibilisieren können Unternehmen Studierende ohne Abitur auch durch die Freistellung für den Besuch von Lehrveranstaltungen an der Hochschule oder für Selbstlernphasen am Computer wirkungsvoll unterstützen. Zudem sind auch finanzielle Entlastungen z.B. für Anfahrten zu weiter entfernt liegenden Hochschulen sinnvoll.
Wissenschaftler:innen mögen keine Prognosen ins Blaue hinein, dennoch die Frage: Welchen Anteil von Studierenden ohne Abi an der gesamten Studentenschaft halten Sie perspektivisch für möglich?
Sigrun Nickel: Grundsätzlich hätten deutlich größere Teile der Bevölkerung die Möglichkeit, sich akademisch zu bilden, als das bislang der Fall ist. In einer aktuellen Publikation haben wir ermittelt, dass in Deutschland durch die verbreiterten Zugangswege bis zu 80 Prozent der Bevölkerung studienberechtigt sein könnten. Wie groß das Potenzial tatsächlich ist, lässt sich allerdings schwer sagen. Dazu fehlen derzeit geeignete Daten und Prognoseverfahren. Das Interesse am Studium ohne Abitur ist jedenfalls über die Jahre immens gestiegen. So gab es beispielsweise 1997 nur 1.568 Studienanfängerinnen und -anfänger ohne Abitur im Bundesgebiet und im Jahr 2020 waren es 15.161 – das ist fast eine Verzehnfachung. Dabei handelt es sich um einen langsamen und kontinuierlichen Anstieg, weniger um plötzliche quantitative Sprünge. Insofern ist eine starke Zunahme in naher Zukunft nicht zu erwarten, eher ein langsames weiteres Wachstum. Am wichtigsten ist uns, dass die Botschaft in der Öffentlichkeit ankommt: Prinzipiell haben alle Bürgerinnen und Bürger auf jedem Bildungsniveau und in jeder Lebensphase die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln. Dazu wollen wir mit unserer Arbeit einen Beitrag leisten.
Eine sehr positive Botschaft! Frau Nickel, Frau Thiele, vielen Dank für das Gespräch!
Zum Weiterlesen:
Zahl der Studienberechtigten deutlich höher als die offizielle Statistik