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Standpunkte zur Berufsorientierung
„Wir überfordern die BO, wenn wir ihr die Aufgabe zuweisen, Deutschlands Arbeitswelt zu retten“

Bettina Zurstrassen ist Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Bielefeld. Sie hat sich in der Vergangenheit in mehreren Schriften teilweise sehr kritisch zu der Art geäußert, wie Berufsorientierung an deutschen Schulen stattfindet. Welchen Blick hat sie auf das Thema aktuell?

Frau Prof. Zurstrassen, Sie haben in mehreren Veröffentlichungen nur wenige gute Haare an der Berufsorientierung an Schulen gelassen. Sie schrieben von gesellschaftlichen Interessen, die hinter der BO stünden und einer Agentur für Arbeit, die gerade SuS mit einem niedrigeren Bildungsabschluss „in unattraktive Berufe und Branchen hineinberaten“ würde. Hat sich im Laufe der Zeit ihr Blick auf die Dinge ins Positivere verändert?

Oh, auf diese komplexe Frage mit wenigen Sätzen zu antworten ist schwierig. Zunächst, die Strukturen sozialer Ungleichheit bei der BO, nicht nur, aber auch bei der Agentur für Arbeit, sind seit Jahrzehnten in der Diskussion und empirisch vor allem in älteren Studien mehrfach nachgewiesen. Insbesondere von Lernenden an Haupt- und Gesamtschulen wird oft erwartet, dass sie „realistisch“ sind oder „auf dem Boden der Tatsachen“ bleiben. Sie werden oft in Mangelberufe mit geringen Löhnen, schwierigen Arbeitsbedingungen und niedrigem Sozialstatus hineinberaten. Bei ihnen wird der Blick bei der BO vielfach auf die Defizite gelenkt, während im gymnasialen Bereich der Fokus auf den Potentialen und auf Selbstverwirklichung liegt. Bekannt ist auch, dass die Zugangschancen zu einer Ausbildungsstelle nicht nur abhängig vom Bildungsabschluss sind, sondern auch vom sozialen Status der Herkunftsfamilie – auch vom Migrationshintergrund – und deren sozialen Beziehungsnetzwerken. Es gelingt durch BO nicht, das zu kompensieren.

Sie haben vorliegende empirische Befunde als „desolat“ bezeichnet.

Insgesamt ist die empirische Forschung im Bereich der BO weiterhin ausbaufähig. Wir haben kaum Daten darüber, wie die einzelnen Maßnahmen im Bereich der BO wirken oder, wie Lehrkräfte für BO qualifiziert werden. Aber alle Daten helfen nicht, wenn aus ihnen keine Konsequenzen erwachsen. Wir haben recht fundierte Daten – zum Beispiel aus dem Ausbildungsreport 2022 der DGB-Jugend – darüber, dass Lernende unzufrieden sind mit der BO an Schulen, der Berufsberatung oder auch Maßnahmen wie der Potentialanalyse. Diese Befunde bleiben aber weitgehend ohne Konsequenz. Stattdessen wird die Lernzeit für BO immer weiter ausgebaut, immer weitere Maßnahmen etabliert, was in Teilen an den Bedürfnissen vieler Lernenden vorbeigeht. Anstelle von mehr BO nach dem Gießkannenprinzip sollten mit Blick auf die Berufswahl stärker individualisierte Konzepte etabliert werden.

Wir reden ja von einem inzwischen sehr politischen Thema. Die BO soll mithelfen, Deutschlands Arbeitswelt zu retten, daher machen auch immer mehr Gruppierungen Vorschläge, wie eine gute BO auszusehen hat und was man dringend ändern müsste. Ist es nicht auch positiv, dass sich so viele Menschen um die Zukunft der jungen Menschen kümmern?

BO an Schulen ist vor allem den Lernenden, ihren Orientierungs- und Entwicklungsbedürfnissen, verpflichtet. Wir überfordern zudem die BO, wenn wir ihr die Aufgabe zuweisen, Deutschlands Arbeitswelt zu retten. Der demographische Wandel, branchenspezifisch-strukturelle Probleme bei der Arbeitskräfterekrutierung etc. können nur sehr bedingt durch BO gelöst werden. Es ist schon interessant, dass mit BO, hier verstanden als arbeitsmarktpolitisches Steuerungsinstrument, die Marktlogik außer Kraft gesetzt werden soll. Wenn eine Branche Nachwuchsprobleme hat, ihre Beschäftigten nicht halten kann, dann muss sie die Rahmenbedingungen verbessern, z. B. durch faire Löhne und Arbeitsverhältnisse. In den letzten Jahren haben diesbezüglich z. B. manche Handwerksbetriebe innovative Lösungen gefunden, um Auszubildende und Beschäftigte zu gewinnen, zum Beispiel Vier-Tage-Arbeitswoche, Integrationskonzepte, Reformulierung des Images von Berufsbildern – offenbar vielfach mit Erfolg.

Berufsorientierung ist ein Instrument, mit dem fast alle Lobbygruppen aus der Wirtschaft politisch Einfluss auf die Bildungspolitik und über sie auf die Lernenden nehmen möchten. Hier stehen aber zumeist die spezifischen Interessen der Lobbygruppen im Fokus und nicht primär die der Lernenden. Deshalb müssen Lehrkräfte so qualifiziert werden, dass sie diese Einflussnahmen analysieren, einordnen und im Unterricht thematisieren können. BO ist mehr als Berufswahl. Sie ist vor allem auch Arbeitsweltorientierung, wozu z. B. auch die Auseinandersetzung mit den dort bestehenden Herrschaftsstrukturen, den Möglichkeiten betrieblicher Mitbestimmung, etc. gehört.

Sie haben vor einiger Zeit auch kritisiert, dass es eine „Verzweckung von Bildung“ gebe, „die auf Arbeitsmarktkompatibilität der Schüler zielt“. Ist es nicht Zweck von Bildung, junge Menschen eben auch auf die Berufswelt vorzubereiten? Warum sehen Sie das so kritisch?

Mit der Formulierung „auch“ kann ich gut leben. Der Bildungsauftrag der Schule umfasst auch die Vorbereitung auf die Berufs- und Arbeitswelt. Ich kritisiere jedoch die Argumentation, die dahin tendiert, den Bildungskanon der Schulen zunehmend auf arbeitsmarktverwertbare Kompetenzen zu fokussieren – wie man diese auch immer definiert. Es wird erstens vernachlässigt, dass junge Menschen auch für die Bewältigung anderer gegenwärtiger und zukünftiger Lebenssituationen und -welten befähigt werden müssen. Die Lernenden sind in Zukunft ja nicht nur Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen, sondern sie müssen auch die Fähigkeit erwerben, Gesellschaft demokratisch mitzugestalten oder soziale Beziehungen in z. B. Partnerschaften, Freundschaften, Vereinsleben aufzubauen und leben zu können.

Zweitens greifen diese Forderungen oft zu kurz. Da wird die Bedeutung von Unterrichtsfächern wie Kunst, Philosophie, Musik, Sport oder auch Politik in Frage gestellt, weil sie nicht arbeitsmarktrelevant sein sollen. Wir wissen aber doch gar nicht, welche Fähigkeiten in 20 oder 30 Jahren auf dem Arbeitsmarkt relevant sind. Ganz davon abgesehen, sind Kreativität, systematisches, kritisches Denken, Analysefähigkeit bereits heute wichtige Fähigkeiten, auch in der Arbeitswelt. Der Bildungsauftrag der Schule geht weit über BO hinaus. Es sind doch vor allem die Geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsfächer, die Räume eröffnen zur Auseinandersetzung über gemeinsam getragene gesellschaftliche Normen und Werte.

Wenn Sie sich eine BO an Schulen „schnitzen“ könnten, wie sähe die aus?

Ich plädiere dafür, die vorhandenen empirischen Daten im Feld zu analysieren und ausgehend hiervon das Konzept der BO zu diskutieren und auszurichten. Das muss ein fortwährender Prozess sein, denn es gibt nicht das eine, alleingültige Konzept von Berufs- und Arbeitsweltorientierung. Arbeitsmärkte, Berufsbilder, Beratungsbedarfe, soziale Erwartungen an den Beruf und auch gesellschaftliche Normen, wie z. B. Verbindlichkeit, Durchhaltevermögen, Verantwortungsbereitschaft, unterliegen einem – sozialen – Wandel. Hierauf muss BO reagieren, deutlich stärker als bisher auch die soziologische Dimension der Berufs- und Arbeitsweltorientierung in der Lehrkräftebildung und im Unterricht thematisieren. Ich kann Ihnen in wenigen Worten nicht mein ideales Konzept von BO präsentieren, aber eine Idealnorm, und zwar diejenige, dass alle Kinder durch und im Rahmen der Berufs- und Arbeitsweltorientierung faire Chancen bei der Berufswal bekommen.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Prof. Zurstrassen!

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