
SWK-Gutachten zum Übergang Schule/Beruf
“Der Fokus muss darauf liegen, möglichst wenige unterwegs zu verlieren”

Immer mehr Jugendliche bleiben ohne Berufsausbildung, immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt. Beim Übergang von der Schule in den beruflichen Sektor läuft also seit Jahren etwas falsch, doch was genau kann die Bildungspolitik noch machen? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat dazu konkrete Empfehlungen veröffentlicht. Zum Gutach-ten befragten wir SWK-Mitglied Birgit Ziegler, sie ist Professorin für Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung an der Technischen Universität Darmstadt.
Frau Professor Ziegler, die SWK hat 16 Mitglieder, wie muss man sich die Erstel-lung eines Gutachtens zu einem Thema wie das des Übergangs in den Beruf vorstellen, bei dem es so viele Facetten und entsprechend später auch viele Kapitel und Empfehlungen gibt? Ist man sich da immer einig darüber, was da später geschrieben steht?
In der SWK wird das Thema anfangs aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und strukturiert und am Ende werden die Empfehlungen intensiv diskutiert. Dazwischen liegen Arbeitsphasen, in denen die Faktenlage analysiert, weitere Expertise eingeholt und der Forschungsstand zu Handlungsoptionen ausgewertet wird.
Die SWK hat sich nicht nur den Übergang von der Sekundarstufe 1 in die Aus-bildung angeschaut, sondern auch die Schulzeit an sich. Deutsch, Englisch, Ma-the und Digitales – überfordert man nicht die Politik, wenn ihnen so viele Stell-schrauben angeboten werden?
Komplexität liegt in der Natur der Sache. Der Übergang lässt sich nicht von Schulzeit davor trennen, weil dafür erforderliche Kompetenzen, seien es die fachlichen oder überfachlichen, über die gesamte Schulzeit hinweg erworben werden. Wir machen der Politik ein Angebot zur Komplexitätsreduktion, indem wir unsere Empfehlungen für die verschiedenen Adressaten aufgeschlüsselt haben.
Eine zentrale Forderung ist, den Schüler*innen im „unteren Leistungsbereich“, wie es im Gutachten vielfach heißt, ganz besonders unter die Arme zu greifen. Sie landen oft in Übergangsmaßnahmen und schaffen es in vielen Fällen nicht in eine Ausbildung. Würden Sie sagen, dass dieser Aspekt priorisiert werden sollte?
Man muss aufpassen und die Ursachen nicht den Schüler*innen zuschreiben. Fakt ist doch, dass es noch immer nicht gelingt, individuelle Benachteiligungen im Bildungssys-tem auszugleichen, vielmehr kumulieren verschiedene Problemlagen. Daher muss viel früher und genauer hingeschaut werden, welche Kompetenzen Schüler*innen benöti-gen, um eine berufliche Zielklarheit zu entwickeln und den Übergang erfolgreich zu bewältigen. Es gibt viele Gründe, warum Schüler*innen in den Übergangssektor ein-münden. Einige versuchen ihre Ausbildungschancen durch einen höheren Schulab-schluss zu verbessern; andere wollen Zeit gewinnen, weil sie noch orientierlos sind. Und wieder andere bewerben sich erfolglos oder werden als „nicht ausbildungsreif“ einge-stuft und Übergangsmaßnahmen zugewiesen. Es gibt regionale Disparitäten auf dem Ausbildungsmarkt, ganz zu schweigen von Schüler*innen mit Fluchthintergrund, die zunächst die Sprache lernen müssen. Letzteres konnte – der Komplexität geschuldet – im Gutachten noch gar nicht adressiert werden. Der Fokus muss darauf liegen, mög-lichst wenige Schüler*innen unterwegs zu verlieren.
Mit vielen Forderungen werden Sie bei der Wirtschaft offene Türen einrennen, gerade bei den Betrieben, die nicht die geeigneten Kandidaten für ihre Ausbil-dung finden. Was fordern Sie von der Wirtschaft? Können und müssen Firmen ebenfalls etwas machen, damit sich die Situation entspannt?
Es gibt schon eine bewährte Praxis der Zusammenarbeit, dennoch wird sich die Situati-on nicht schnell entspannen. Wichtig ist, Schüler*innen Einblicke in Berufe und die be-triebliche Praxis zu geben, sei es über Betriebspraktika, Betriebsbesichtigungen, Ge-spräche und Kenntnisse zu Bewerbungsverfahren oder ggf. Einladungen zu Bewer-bungstraining etc. Schulen sollten daher von der Wirtschaft mit den Kompetenzen und Ressourcen unterstützt werden, über die sie selbst nicht verfügen können. Zudem sinkt durch stabile Kooperationen der Organisationsaufwand. Zentral ist dabei eine Kultur des Vertrauens und gegenseitigen Respekts.
Das Gutachten liegt jetzt seit April vor. Was ist seitdem passiert? An welchen Stellen werden die Punkte jetzt aufgegriffen und priorisiert? Haben Sie schon mitbekommen, wie die Reaktionen auf das Gutachten ausgefallen sind?
Wir sind mittendrin in den Debatten und diskutieren unsere Empfehlung in SWK-Talks mit Stakeholdern, der Politik und Praxis. Es melden sich zum Beispiel verschiedene Ver-bände zur Frage, wie die Perspektive naturwissenschaftlicher Fächer auf berufsrelevante Themen im Unterricht berücksichtigt werden kann. Bis allerdings konkrete Umsetzun-gen erfolgen, dauert es in der Regel länger als ein halbes Jahr.
Vielen Dank für das Gespräch!
Foto ©: Kay Herschelmann