Skip links

Studien und Forschung zur BO
“Mir liegt die Etablierung einer wirkungsorientierten BO am Herzen”

Thorsten Bührmann gehört zu den profiliertesten Kennern der beruflichen Orientierung in Deutschland. Seit über 20 Jahren geht er in seinen Forschungsarbeiten der Frage nach, wie der Übergang von der Schule in Ausbildung und Studium am besten gelingt. Seit 2016 belegt er an der MSH Medical School Hamburg eine Professur für Sozialwissenschaften und Forschungsmethodik und ist wissenschaftlicher Leiter der Berufswahl-SIEGEL Akademie.

Herr Professor Bührmann, Sie kennen so gut wie jede Studie zur Berufsorientierung in Deutschland. Warum ist es in den zurückliegenden Jahren nicht gelungen, ein System aufzubauen, mit dem alle zufrieden sind?

Berufliche Orientierung, also die Gestaltung des Übergangs zwischen Schule und Beruf, ist ein Prozess, in dem die die Interessen, Zuständigkeiten, Voraussetzungen und Erwartungen ganz unterschiedlicher Akteure aufeinandertreffen: Zunächst geht es um die Jugendlichen selbst, d.h. um ihren individuellen Orientierungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsprozess. Damit geht um persönliche Lebensentwürfen und Werten, Ängsten und Hoffnungen etc., hier möchte ich auf die regelmäßig erhobenen SINUS-Erhebungen verweisen. Eng damit verbunden ist auch die Rolle der Eltern und deren Vorstellungen über die berufliche Zukunft ihrer Kinder. Zum zweiten geht es um die Anforderungen des Arbeitsmarktes und die Erwartungen von z.B. Unternehmen. Dies unterliegt derzeit einer sehr dynamischen Entwicklung: Stichworte sind hier der Fachkräftemangel, Digitalisierung, die Entstehung neuer Berufsbilder, die eine ständige Aktualisierung der Beruflichen Orientierung erfordern. Und wir haben drittens Bildungs-, Beratungs- und Hilfseinrichtungen wie Schule, Agentur für Arbeit, Jugendsozialarbeit, die diesen Übergangsprozess institutionell rahmen. Nur wenn ALLE genannten Akteure in die Gestaltung der Beruflichen Orientierung eingebunden werden, kann ein zufriedenstellendes System entstehen. Hier braucht es ständige Abstimmungs-, Klärungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den sehr unterschiedlichen Akteuren. Die Frage ist: Können wir dabei überhaupt eine Zufriedenheit bei allen erreichen? Oder müssen wir nicht vielmehr diese Ambivalenzen akzeptieren und bewusst austarieren?

Aber Sie würden ja dennoch auch gerne einige Stellschrauben bewegen – welche wären das, wenn man Sie ließe?

Zum Glück habe ich ja die Möglichkeit, im Rahmen des Berufswahl-SIEGELs und im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitungen unterschiedlicher Modellprojekte die ein oder andere Schraube zu bewegen. Folgendes ist mir dabei wichtig:

Zum einen die Stärkung regionaler Verantwortungsgemeinschaften. Also Personen zusammenzubringen, die sich für die berufliche Orientierung und das Gelingen von Übergängen engagieren und sich darum bemühen, ihre Aktivitäten vor Ort abzustimmen Es fehlt meist nicht an Engagement und Bereitschaft. Es braucht aber viel mehr professionell organisierte und strukturierte Frei- und Gestaltungsräume für diese Menschen. Zudem liegt mir die Etablierung einer qualitätsgesicherten und wirkungsorientierten BO am Herzen. Das bedeutet: Zum einen Strukturen zu schaffen für eine kontinuierliche Evaluation von durchgeführten Maßnahmen und deren Wirkungen. Zum anderen müssen die Akteure befähigt werden, passende Evaluationen durchzuführen. Dies stellt schließlich eine Grundlage dar, um die begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen in unserem Bildungssystem zielgerichtet und möglichst effizient zu nutzen

Die neue Koalition möchte die Berufsorientierung an Schulen ausbauen. Konnten Sie sich schon einen ersten Einblick verschaffen, was die Regierung plant?

Was ich mitbekomme, wird es genau in diese Richtung gehen: Eine Ausrichtung auf eine stärker wirkungsorientierte BO. Die zentralen Fragen sind hier: Welches Qualitätsmodell ist geeignet, einerseits den Ansprüchen einer theoretischen und evidenzbasierten Steuerungsfunktionen gerecht zu werden und andererseits eine unmittelbare Anschlussfähigkeit an die Praxis der Schulen und weiteren BO-Akteuren zu ermöglichen? Wie kann es zudem gelingen, dass die Qualitätssicherung zugleich die Motivation bei den Lehrkräften steigert, sich für eine gute BO einzusetzen? Interessant wird in diesem Zusammenhang die weitere Ausrichtung der Initiative Bildungsketten sein, die derzeit verhandelt wird. Ich denke, dass vor diesem Hintergrund viele seit Jahren etablierte Instrumente der BO durchaus einer kritischen Prüfung unterworfen werden.

Die Berufsschulen beklagen die Situation, dass immer mehr Jugendliche die für eine Ausbildung notwendigen Voraussetzungen nicht mitbringen. Meist sind es Probleme mit der deutschen Sprache oder mit Mathe. Wer sollte sich darum kümmern? Der Staat oder besser gleich der ausbildende Betrieb?

In jedem Schulgesetz finden sich zu Beginn Formulierungen zum Recht auf Bildung und individuelle Förderung sowie dem Bildungsauftrag der Schule. Damit ist die Förderung der von Ihnen angesprochenen Grundkompetenzen klar eine Aufgabe der (Berufs-)Schule bzw. im Sinne ihrer Frage eine staatliche Aufgabe. In der Praxis funktioniert es jedoch dort am besten, wo gemeinsame Verantwortung praktiziert wird – also schulische Bildung, sozialpädagogische Stützangebote und betriebliche Begleitung Hand in Hand greifen. Beispiele hierfür sind der Einsatz von Ausbildungsbegleitung, oder das in einigen Bundesländern praktizierte AV-dual Konzept. Dennoch: Die Verzahnung von berufs- und arbeitsweltbezogenen Inhalten mit dem allgemeinbildenden Bildungsanspruch von Schule ist seit jeher ein spannungsreiches Thema. Die konzeptionell-fachliche Anbindung an eine Bildungsinstitution und den dort professionell ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen halte ich weiterhin für einen guten Weg, um Menschen mit schwierigen Start- und Umfeldbedingungen eine möglichst breite Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Es geht hier letztlich auch um Chancengerechtigkeit.

Und wenn wir die Rolle der Eltern betrachten: Diese engagieren sich an immer mehr Schulen, indem sie über ihren Job sprechen und versuchen zu erklären, was genau ihnen an ihrem Job Spaß macht. Was halten Sie davon?

Grundsätzlich halte ich eine stärkere Einbindung der Eltern in die BO für essenziell. Die hohe Bedeutung der Eltern in diesem Prozess ist unstrittig und empirisch weitgehend belegt. Allerdings sind die Wirkungen, Eltern durch „Vorträge“ als Expertinnen und Experten für Berufe einzubinden, eher gering. Impulse von Auszubildenen und ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind hierfür besser geeignet: Sie sind näher an der Lebenswelt der Jugendlichen dran und können zudem als Buddys sowie in stärkerem Maße als Vorbild wirken. Wichtiger finde ich es, Eltern für ihre Rolle im Orientierungsprozess zu sensibilisieren und in ihrer Funktion als soziale Unterstützung zu stärken. In zwei Modellprojekten in Baden-Württemberg und Bayern wurden hierfür in den letzten beiden Jahren Elternplattformen, Filme zur Sensibilisierung der Elternrolle sowie ein Selbstcheck zur Erfassung der elterlichen Berufswahlbegleitkompetenz entwickelt. Die dort hinterlegten Materialen gilt es nun in schulische BO-Elternarbeit sinnvoll einzubinden.

Sie begleiten das Projekt Berufswahl-SIEGEL als Wissenschaftler. Haben die Auszeichnungen der Schulen dazu geführt, dass die Berufsorientierung an Schulen mehr Wertschätzung findet?

Ja, das zeigen die verschiedenen Evaluationen des SIEGELs sehr deutlich. BO-Lehrkräfte geben an, dass sie die Auszeichnung als Anerkennung für ihre persönliche Leistung und ihr Engagement wahrnehmen. Dies motoviert und erhöht zugleich die Akzeptanz im Kollegium: BO wird so nicht mehr als Randthema wahrgenommen, sondern als wichtiger Bestandteil des Schulprofils. Dadurch gelingt es den engagierten Lehrkräften, Teamstrukturen zu etablieren und die Aufgaben der BO auf breitere Schultern zu verteilen. Einen wichtigen Beitrag hierfür leistet auch die Strukturierung und Standardisierung im Sinne eines stimmigem Gesamtkonzepts, die mittels der SIEGEL-Kriterien eingeführt werden. Hierdurch können Aufgaben klarer und transparenter benannt und verteilt werden.

Das SIEGEL hat zudem eine große Außenwirkung: Es wird die Initiierung von Kooperation und die Einbindung von Fachleuten aus der Wirtschaft gefördert. Die Auszeichnung mit dem Berufswahl-SIEGEL zeigt Unternehmen, dass eine strukturierte, verlässliche und in der Schule fest verankerte berufliche Orientierung erfolgt. Die Bereitschaft zur Kooperation ist dadurch höher, so die Erfahrungsberichte der Schulen. Allerdings entfaltet das Berufswahl-SIEGEL hier nicht sein volles Potential: Es könnten noch in viel höherem Maße die von mir eingangs erwähnten regionalen Verantwortungsgemeinschaften gestärkt und systematisch von den SIEGEL-Akteuren ausgestaltet werden. So ließe sich für die Schulen ein deutlicherer Mehrwert durch die SIEGEL-Zertifizierung verschaffen und das Berufs-SIEGEL seinem Netzwerk-Anspruch noch deutlicher gerecht werden.

https://zfoeb.de//artikel/view/91

← Zurück

Leave a comment

20 − 15 =