Auf Initiative des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gründete sich im Mai 2014 der Expertenkreis „Geschlechtergerechte Berufs- und Studienwahl“. Seine Aufgabe war es, Vorschläge für den Abbau der „geschlechtlichen Konnotation der Berufen“ zu entwickeln. Gut zwei Jahre später nahm die Initiative Klischeefrei ihre Arbeit auf, die inzwischen von rund 555 Partnerorganisationen unterstützt wird. Was macht die Initiative konkret? Wir sprachen darüber mit Franziska Wildner, sie arbeitet beim Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e. V.
Frau Wildner, die geschlechtliche Ungleichverteilung bei den Berufen verstärkt den Fachkräftemangel und bewirkt ungleiche Löhne. Wie hoch schätzen Sie den Schaden ein, der dadurch einer Gesellschaft entsteht?
Er ist immens hoch! Würden Geschlechterklischees keine Rolle mehr spielen, würden die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker im Vordergrund stehen und der oder die beste Nachwuchskraft gewonnen werden. Gerade im Hinblick auf den demografischen Wandel können wir uns es uns nicht leisten, so weiterzumachen wie bisher.
Was heißt das konkret?
Wenn junge Frauen z.B. durch Geschlechterklischees davon abgehalten werden, in mathematisch-technischen Berufen zu arbeiten, dann werden sie ebenfalls davon abgehalten, Gesellschaft und Kultur mitzugestalten. Ein Beispiel: Im IT-Sektor arbeiten nur knapp 20 Prozent Frauen, 80 Prozent sind Männer. Genauso ist es umgekehrt: Wenn junge Männer durch Klischees einen schwereren Zugang zu sozialen oder medizinischen Berufen haben – hier sind nur knapp 20 Prozent der Beschäftigten Männer –, dann werden sie davon abgehalten, Gesellschaft und Kultur in dem Bereich mitzugestalten.
Welche Auswirkungen hat das?
Natürlich auch wirtschaftliche. Das Innovationspotenzial kann sich nicht voll entfalten, wenn homogene Gruppen miteinander arbeiten. Mitarbeitende, die ausschließlich nach ihren Talenten und Fähigkeiten ausgewählt werden, verbleiben viel länger im Unternehmen, weil sie gespiegelt bekommen, dass ihre individuellen Fähigkeiten gebraucht werden. Das macht ein Unternehmen zukunftsfähig und sicher, wirkt sich finanziell positiv aus und stärkt am Ende die Volkswirtschaft. Wenn sich Unternehmen dieser Vorteile bewusst sind, erfolgt die Auswahl an potentiellen Beschäftigten diverser und verweilt nicht mehr bei lediglich einer Geschlechtergruppe. Mein Fazit: wir können alle nur gewinnen, wenn wir uns mit Geschlechterklischees auseinandersetzen und Strukturen schaffen, die Jungen und Mädchen darin unterstützen, einen Beruf nach ihren Fähigkeiten und Interessen zu wählen, und nicht danach, welcher Geschlechtergruppe sie angehören.
Fachkräfte fehlen in vielen Bereichen, auch in vermeintliche Frauenberufen. Wäre es eigentlich nicht auch etwas problematisch, wenn sich viele Mädchen von typischen Frauenberufen abwenden? Ich denke z.B. an Pflegeberufe.
Ja, natürlich wäre das problematisch, ist aber in absehbarer Zeit nicht zu erwarten und auch nicht unser Ziel. Vielmehr möchten wir, dass sich in allen Berufen ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis einstellt. Personalengpässe, die sich dadurch verstärken könnten, dass Mädchen aus diesen Berufen in handwerklich-technische Berufe abwandern, würden von Jungen abgefedert, die in diese Berufe einwandern – und natürlich umgekehrt. Wenn Menschen aber ihre Berufswahl klischeefrei ausrichten, sich dabei an ihren Potentialen und Interessen orientieren und gleichzeitig auf einen klischeefreien Arbeitsmarkt treffen, so wie wir das von der Initiative Klischeefrei anstreben, können wir von einer höheren beruflichen Zufriedenheit und größeren Produktivität und damit einhergehend längeren Verweildauern und geringeren Abbruchquoten in den jeweiligen Berufen ausgehen.
Die Initiative, die bei Ihnen im Kompetenzzentrum und beim BIBB angesiedelt ist, soll gegen dieses Ungleichgewicht etwas tun. Wie soll das erreicht werden? Das eine ist es ja, etwas zu beklagen oder die Folgen zu beschreiben, etwas ganz anderes aber, Jugendliche dazu zu bewegen, eine andere berufliche Entscheidung zu treffen. Immerhin wünschen wir uns ja, dass Menschen selbstbestimmt handeln.
Genau! Wir wollen, dass Jugendliche selbstbestimmt ihre Berufs -und Studienwahl treffen. Denn schon im Kindesalter werden sie schon früh mit einengenden Geschlechterklischees konfrontiert. Bereits im Grundschulalter verbinden Kinder viele Berufe mit einem bestimmten Geschlecht. Diese verfestigen sich im Lebensverlauf, wenn ihrem Umfeld, also Eltern, Erzieher:innen, Lehrer:innen, Berufsberater:innen, Ausbilder:innen etc., der Einfluss von Geschlechterklischees nicht bewusst ist. Und genau da setzen wir an: unsere kostenlosen Methoden wurden und werden für die direkte pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendliche von der Kita über die Grundschule Sekundarstufe 1 bis zur Berufsberatung und Unternehmen entwickelt. Außerdem gibt es für all diese Institutionen Anleitungen zur Sensibilisierung und Selbstreflexion für das pädagogische Personal sowie zur Einbindung von Eltern. In unserem E-Learning-Kurs speziell für Fachkräfte in der Berufsberatung stellen wir z.B. praxisbezogene Methoden für die Beratungsarbeit mit Jugendlichen in der Berufsorientierung bereit.
In einem Video auf der Homepage wird gesagt, dass sich die Hälfte der männlichen Schulabgänger für 20 Berufe entscheidet und bei den Frauen ebenfalls eine Hälfte Berufe in den Top-10 wählt. Ein Sprecher sagt dann: „Junge Menschen folgen Klischees“. Bevor man nun anfängt, der Jugend deshalb Vorwürfe zu machen, könnten ja Unternehmen darüber nachdenken, was in den letzten Jahren falsch gelaufen ist und was besser laufen müsste, oder?
Natürlich, und das Gute ist: es gibt schon sehr viele Unternehmen, die sich für das Thema einsetzen und sich aktiv mit den Auswirkungen von Geschlechterklischees auseinandersetzen. Von unseren über 555 aktiven Partnerorganisationen stellen Unternehmen den größten Anteil. Das zeigt uns, dass Unternehmen sich aktiv auf den Weg machen und Veränderungen anstoßen möchten. Dafür braucht es aber manchmal auch Unterstützung, die Partnerunternehmen bei uns kostenlos in Anspruch nehmen können.
Was steht konkret an Maßnahmen an in nächster Zeit? Was plant die Initiative Klischeefrei?
Die Nachfrage nach Begleitung ist weiterhin groß. Zum einen möchten wir Unternehmen noch besser unterstützen, ihre eigenen Klischees und Stereotype in unterschiedlichen Arbeitsprozessen zu erkennen und Ihnen Hilfe an die Hand geben, wie Sie diesen aktiv begegnen können. Hierfür entwickeln wir einen E-Learning-Kurs, der Ende 2024 startbereit ist. Um in Zukunft Jugendliche und Ihre Eltern noch besser zu erreichen, starten wir eine groß angelegte Social-Media-Kampagne. Wir wollen aber nicht nur auf die Bildschirme, sondern bis in die Wohnzimmer von Familien: wir entwickeln ein Spiel, das alle Familienmitglieder zum Austausch zu Geschlechterstereotype anregt. Ein weiteres Highlight ist unsere Fachtagung, die im März nächsten Jahres im Auswärtigen Amt stattfindet, an der wie immer hochkarätige Gäste aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft teilnehmen werden. Ich kann schon mal verraten, dass wir diesmal den Blick über die eigenen Landesgrenzen hinweg werfen und mit vielen internationalen Gästen über Ansätze für eine klischeefreie Berufs- und Studienwahl diskutieren werden.