Wie lässt sich das Interesse an einer Ausbildung steigern? Was müsste besser laufen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen? Wer könnte das besser wissen als diejenigen, die das Problem jeden Tag auf dem Schreibtisch liegen haben: Die Menschen von der Bundesagentur für Arbeit. Wir unterhielten uns mit Christine Haller, sie ist Bereichsleiterin Berufseinstieg/Reha der Bundesagentur für Arbeit der Regionaldirektion Baden-Württemberg.
Frau Haller, der Fachkräftemangel rückt trotz anderer großer Themen immer mehr in die Schlagzeilen. Das Problem zeichnet sich seit Jahren ab, aber für viele Menschen wird es erst jetzt richtig spürbar. Etwa weil man keine Handwerker:innen findet oder lange auf Produkte warten muss. Täuscht dieser Eindruck, dass sich die Situation momentan verschärft?
Aufgrund des demografischen Wandels ist eine Zunahme des Problems eigentlich vorprogrammiert. Trotzdem wird der Fachkräftemangel ganz unterschiedlich wahrgenommen, da er regional und in einzelnen Berufsfeldern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. In einigen Branchen kommen zum Fachkräftemangel ja noch weitere Probleme wie etwa Lieferengpässe aufgrund der aktuellen Krisen hinzu. Das verstärkt sicherlich den subjektiven Eindruck.
Ein Lösungsansatz könnte ja sein, Berufe mit sehr großem Fachkräftemangel noch viel stärker als bisher bei Schulabgänger:innen zu bewerben. Viele sagen: Klingt einfach, ist es aber nicht. Was sagen Sie dazu?
Für eine fundierte Berufswahlentscheidung ist es sehr wichtig, dass alle Informationen und Fakten zu Berufsbildern und Arbeitsmarktperspektiven zugänglich sind – dies gilt im Übrigen nicht nur für Jugendliche zu Beginn ihrer Erwerbsbiographie sondern auch für Erwachsene, die sich beruflich umorientieren wollen. Hier vollumfänglich zu informieren und Entscheidungsprozesse durch eine qualitativ hochwertige und klischeefreie Beratung zu begleiten, ist unsere Aufgabe. Bei vielen Berufen, in denen Fachkräftemangel herrscht, sind Verdienstmöglichkeiten, Work-Life-Balance und Aufstiegschancen, gute Argumente, um sich für einen solchen Beruf zu entscheiden. Wenn dann auch noch die Möglichkeit besteht, sich mit den Berufsfeldern aktiv auseinanderzusetzen wie beispielsweis im Rahmen der Girls Day Academy bei MINT-Berufen, dann kann eine fundierte Entscheidung getroffen werden.
Sie sprechen sicher auch mit vielen Arbeitgeber:innen in Baden-Württemberg. Haben Sie das Gefühl, dass die Unternehmen genug machen, um für sich als Ausbildungsanbieter zu werben?
Natürlich gibt es große Unterschiede in der Art und Weise, wie Unternehmen ihr Ausbildungsangebot bewerben. Und es ist auch je nach Branche oder Unternehmensgröße sehr sinnvoll, hier unterschiedliche Wege zu gehen. Grundsätzlich beobachten wir aber ein großes Engagement bei den Unternehmen in Baden-Württemberg; allen ist klar, dass unser Ausbildungsmarkt seit einigen Jahren einen absoluter Bewerbermarkt ist. Eine vielversprechende Strategie kann für Unternehmen mit besonders großen Nachwuchssorgen auch darin liegen, noch einmal den potenziellen Personenkreis zu erweitern, also beispielsweise auch schwächeren Bewerbern:innen eine Chance zu geben. Das lohnt sich auch deshalb, weil die Erfahrung zeigt, dass diese Jugendlichen oft eine besonders hohe Loyalität zu ihrem Arbeitgeber entwickeln. Also eine echte Investition in die Zukunft.
Worauf setzen Sie vor allem, wenn es darum geht, junge Menschen und Unternehmen wieder besser zusammenzubringen?
Während der Pandemie ist insbesondere die praktische, berufliche Orientierung zu kurz gekommen: die Schüler:innen hatten kaum Gelegenheit, Praktika zu absolvieren und Betriebe kennenzulernen. Aber wie soll ich mich für eine Ausbildung entscheiden, wenn ich mir darunter überhaupt nichts vorstellen kann und auch nicht weiß, wie beispielsweise die Arbeit mit meinen zukünftigen Kollegen:innen aussehen wird? Das ist ein großer Unsicherheitsfaktor bei den Jugendlichen, der dazu führen kann, das vertraute Umfeld Schule nicht zu verlassen. Konkret arbeiten wir mit unseren Partnern:innen des Ausbildungsbündnisses daran, die berufliche Orientierung bei allen Beteiligten – also Schüler:innen, Eltern und Lehrkräften- wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken und noch in diesem Frühsommer mehr Praktikumsmöglichkeiten für Schüler:innen anzubieten. Darüber hinaus tragen auch unsere Förderinstrumente wie beispielsweise die „Einstiegsqualifizierung (EQ)“ oder die „Assistierte Ausbildung (AsA)“ dazu bei, Jugendliche und Betriebe zusammenzubringen.
Vielen Dank, Frau Haller, für das Gespräch!